TOX INDIGO

About

Wenn Sophie Esslinger ein Emoji wäre, würde sie sich selbst als Träne sehen. Sowohl rund als auch scharf, widersprechen Tränen einer konstanten Form oder Struktur. Was sie definiert, ist ihr ständiger Zustand der Veränderung – sie sind in perpetueller Bewegung, Entwicklung und Transformation. Wie Wirbel, Stürme oder Sterne sind sie keine statischen Objekte oder festen Formen, wie wir sie uns vorstellen. Die optischen Phänomene und ihre analogischen Verbindungen eröffnen ein weites Spektrum an möglichen Kombinationen und Anordnungen – auf der Leinwand und darüber hinaus.

Hart und weich, heiß und kalt, stumpf und scharf, innen und außen, oben und unten – dies sind nur einige der Gegensätze, die Esslinger für unsere Welt hält – oder zumindest für unsere Wahrnehmung davon. Sie dehnen sich aus, schrumpfen und vervielfachen sich mit jedem Pinselstrich und jedem neuen Blick.

Esslingers Gemälde schaffen eine Bühne, auf der diese Widersprüche nebeneinander existieren können, und ermöglichen es, dass ihr spezifisches Vokabular eine Erzählung bildet. Doch Farben, Formen und Empfindungen können kaum eine so reine Unschuld besitzen, dass sie nur eine einzige Bedeutung haben. Stattdessen ist die Vielzahl möglicher Bedeutungen, die einer Form zugeschrieben werden können – ist es eine Träne, ein Regentropfen oder Blut oder eine Muschel; ist es ein Berggipfel, eine Brust oder eine Zwiebel – die treibende Kraft ihrer Malerei und, so kann man sagen, der Malerei im Allgemeinen.

Als sich der Schweizer Künstler Martin Disler 1981 im Württembergischen Kunstverein Stuttgart einschloss, hatte er nur ein Ziel: ein sehr großes Gemälde zu schaffen. Er arbeitete vier Tage und vier Nächte daran. Die Umgebung der Liebe, ein monumentales, 140 m großes Gemälde, wurde sofort zu seinem bedeutendsten Werk. Disler ist zwar nicht der einzige Künstler, der ein Museum oder eine Galerie zu seinem Schlafzimmer gemacht hat oder zumindest einen Großteil seiner Zeit dort verbracht hat; in der Tat gibt es im Bereich der Performancekunst noch berühmtere Beispiele. Für Esslinger hingegen zeigt Dislers Werk einen definitiven Triumph der Malerei über die Performance.

Ein Nicht-Maler wird niemals wissen, wie es ist, ein Gemälde wie ein Maler zu sehen, ebenso wie ein Maler es niemals wie ein Nicht-Maler sehen wird, falls man eine Unterscheidung treffen möchte. Und doch, wie in der Performance und Literatur, so auch in der Malerei, produziert Wiederholung Unterschied, Formen und Worte bilden eine Erzählung und die Bedeutung verändert sich im Laufe der Zeit. Für Esslinger sind dies Ideen, die sie aus Büchern oder der Kunstgeschichte aufnimmt und sie innerhalb des Kosmos ihres Werks neu kontextualisiert.

Mit den Worten „Du bist hier, um die Zeit kurz zu schneiden“ beginnt das Drama Schrei mich zurück in mein Innerstes All von Georg Timber-Trattnig. Der Hauptprotagonist des Stücks trägt den Namen Tox Indigo, nach dem Esslinger ihre Ausstellung benannt hat. Wie das Stück evoziert, kürzt jeder seine Zeit, wie er möchte – oder zumindest, wie er es kann. Sophie Esslinger malt.


If she were an emoji, Sophie Esslinger claims she would be a tear. Both round and sharp, tears defy a constant shape or structure. What defines them is their constant state of flux—they are in perpetual motion, always shifting, evolving, and transforming. Just like whirls, storms, or stars, they are not static objects or fixed forms as we imagine them; these optical phenomena, and the analogies between them create a wide spectrum of possible combinations and arrangements within a canvas, and, beyond it.

Hard and soft; hot and cold; blunt and sharp; inside and out; up and down—these are only a few of the juxtapositions that Esslinger believes to constitute our world—or at least our perception of it. They expand, shrink and multiply with every brushstroke, and every new gaze.

Esslinger’s paintings set a stage for these contradictions to coexist, and for her specific vocabulary to form a narrative. But colors, shapes and sensations can hardly possess an innocence so pure as to mean only one thing. Instead, the multitude of possibilities that can be attributed to a shape—is it a tear, a drop of rain or blood, or a mussel; is it a mountaintop, a breast or an onion—is the driving force of her painting, and, one can say, of painting in general.

When Swiss artist Martin Disler closed himself off into the Würtembergischer Kunstverein Stuttgart in 1981, he had one goal: to produce a very large painting. He worked on it for four days and four nights. Die Umgebung der Liebe, a monumental 140m canvas, instantly became his most significant work. Disler is certainly not the only artist who made a museum or gallery into their bedroom or at least spent a significant amount of time there; in fact, there are more famous examples in the realm of performance art. But for Esslinger, Disler’s work, on the contrary, demonstrates a definitive triumph of painting over performance.

A non-painter will never know how it is to see a painting like a painter, just as a painter will never see it as a non-painter; if one is set on making a distinction. And yet, as in performance and literature, so in painting, repetition produces difference, shapes and words form a narrative and meaning changes over time. For Esslinger, these are ideas that she picks up from books or art history, and recontextualizes them within the cosmos of her work.

„Du bist hier, um die Zeit kurz zu schneiden,“ are the first words of the play Schrei mich zurück in mein Innerstes All by Georg Timber-Trattnig. It is the play from which Esslinger borrows the exhibition title Tox Indigo, who is the main antagonist. As the play makes clear, everyone cuts their time short as they wish or at least as they’re able. Sophie Esslinger paints.


Works

Installation images

News

Publications

Enquiry