Countdown
Deutschland 1990, 16mm, Farbe, 188min
COUNTDOWN folgt einem chronologischen Ablauf. Der Film wurde in Berlin und Umgebung gedreht, zehn Tage lang, bis zur Währungsunion am 1. Juli 1990, mit der ‚die erste Etappe der deutschen Wiedervereinigung‘ eingeleitet wurde. Doch was wird hier ausgezählt? Zusammengebracht oder aufs Neue getrennt?
Ulrike Ottinger über COUNTDOWN:
Der Film fängt an mit der Vergangenheit, mit dem, was verloren ist, mit den Toten, aber auch mit dem, was überlebt hat …
Der Jüdische Friedhof in Weißensee/Ost-Berlin mit Grabmälern, die verschiedene Epochen und Stile repräsentieren, erzählt uns vom kulturellen Hintergrund und Status der Verstorbenen, ihren orthodox-religiösen oder liberalen Vorstellungen. Verwunschene Orte wie verlassene orientalische Gärten, archaisch alttestamentarische Stelen oder einfache Schieferplatten, die der gemordeten Toten in Theresienstadt, Auschwitz und anderswo gedenken. Der Blick, der die Erinnerung weckt: Mit einem Fährboot vorbei an Häusern mit abblätternder Fassade, Feldern mit Mohn und Kornblumen zu Fischerdörfern mit Netzen, Holzbooten und Storchennestern auf Kirchtürmen. Das Gras wächst zwischen den Pflastersteinen. Danach eine Kamerafahrt auf dem ehemaligen Todesstreifen, der jetzt von Radfahrern und Spaziergängern genutzt wird. Ein neues beliebtes Ausflugsziel der Berliner.
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PRESSESTIMMEN
Keine besonderen Vorkommnisse, keine Aufregungen oder Überraschungen gab’s auf dieser Berlinale, der ersten im “neuen” Deutschland, trotz der Zeichen der Zeit, der (welt)politischen Entwicklungen zwischen Wüstenkrieg und Wiedervereinigung. Ein Arbeitsfestival eben, so hatte sein Leiter Moritz de Hadeln es zuvor angekündigt, ein wenig kokett gewiß, doch ganz entschieden. Wobei es, für Profis wie für “normale” Zuschauer, durchaus zur “Arbeit” gehört, sich immer wieder freizumachen vom täglichen Countdown, sich herauszulösen aus dem permanenten Verwertungszwang: Film nach Film durchzusitzen, einzuordnen, in seinen Chancen einzuschätzen.
Nur wenige Filme riskieren es da, den vorgegebenen Rahmen zu sprengen, doch gerade die gehörten zu den schönsten des Festivals, Filme von den Rändern des Spektrums, Dances with Wolves von Kevin Costner sowie Countdown von Ulrike Ottinger: Filme, die zeigen, wie Grenzen erfahren und verändert werden; Filme über die Erfahrungen von Trennung und Wiederannäherung, über das Vergangene und Verlorene im Heute. Sie kommen dem Zuschauer kaum entgegen, sie erwarten seine eigene Bewegung.
Ottingers Film versammelt Bilder und Töne von Berlin, aus den letzten zehn Tagen vor der Währungsunion am 1. Juli ’90. Wobei man den Titel, Countdown, nicht mißverstehen darf, er setzt dieses Datum nicht als geschichtlich bedeutsamen Zeitpunkt, dokumentiert den Zeitraum nicht als “zehn Tage, die ein Land erschütterten”. Wie in ihren letzten Filmen, aus China und der Mongolei, konzentriert die Kamera der Ulrike Ottinger sich auf die Oberflächen, sie geht über Mauern und Sträucher, Wasserstrudel und Pflaster; aus verschiedenen gegenläufigen Bewegungen entsteht das Leben dieser Bilder. “Der Willkür des Anfangs entspricht die Willkür des Endes. Doch dazwischen gibt es soviel zu erzählen.”
Nicht um Symptome geht es also, sondern um Spuren, nicht um Zeichen, sondern um Ablagerungen der Geschichte. Erzählen, für Ottinger hat das mehr mit Auf- und Abzählen zu tun als mit Fiktionen und kunstvollen Konstrukten. Wie ein neugieriger Tatzelwurm tastet eine Straßenbahn sich aus der engen Kurve einer Kleinstadtstraße heraus. Immer wieder verspürt man beim Zuschauer eine Versuchung, mit Interpretation sich zu wappnen gegen die Unbefangenheit der Bilder. Ein kleines Mädchen dreht auf einem alten kleinen Holzroller ein paar ungeschickte Runden auf dem Bürgersteig. Ist das nicht symbolisch für den Zustand der DDR überhaupt? […]
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung, 28. Februar 1991
[…] Ottinger, die oberflächenhaft dem Exotismus zugeordnet wird, geht [in ihrem dreistündigen Reisefilm Countdown] nicht anders vor, als in ihrem überragend sorgfältigen Dokument China, die Künste, der Alltag, der 1986 im Forum lief. Countdown ist der einzige westdeutsche Beitrag zur sich zwangsläufig ergebenden Reihe „Mauersprünge & Grenzgänge“. Zudem trägt er einen Titel der amerikanischen Militärsprache, der den Sekunden vor Abschuß einer Rakete gilt. Die Analogie trägt soweit, als daß hier Umkehrbewegungen, Temperaturverluste simuliert werden, die Berlins dauerhaft prekärer Eigenschaft als Transitstation gerecht werden.
Im ästhetischen Zentrum dieser Reise-Recherche steht ein theoretischer Satz zur Verlangsamung. Alle Fernsehbilder arbeiten mit dem Diktum der Beschleunigung. Jürgen Böttcher und Ulrike Ottinger, einst Maler, bevor sie das Medium Film entdeckten, plädieren für eine bedachtsame Verzögerung in unserer Wahrnehmung, die erst die Voraussetzung zum Wahrgenommenen schafft. In einem Videoclip werden Wünsche geweckt, in einer langsam geschwenkten Einstellung werden Denkbilder wach. Nicht von ungefähr beziehen sich die Zwischentitel in Ottingers Film, der ohne gesprochenen Kommentar und fast ohne Dialoge auskommt, auf Texte von Walter Benjamin, den Krisensymptomatiker der dreißiger Jahre, auf den jetzt sich zu besinnen der Besinnungslosigkeit Einhalt geböte.
Countdown bilanziert nicht so sehr die Lücken in der Mauer, sondern die in unserem Geschichtsbewußtsein. Das ist eine Reise in die verlorene Vergangenheit, die mit dem Einsteinturm des Architekten Mendelsohn in Potsdam eröffnet, zum Innehalten auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee einlädt, als seien schon da die Zeichen zu lesen, die zum Coutdown im Geschichtsbewusstsein führten. Der scheinbar stumme Film, der intensiv mit Straßen- und Umweltgeräuschen arbeitet, die Kamera zumeist auf fahrende Autos, Schiffe, Schwebebahnen setzt, zählt jene zehn Tage vor der Währungsunion im Juni 1990.
Das Tempo ist gedrosselt, sorgsam sind die Schwenks vertikal von unten nach oben, von oben diagonal nach rechts unten gezogen, um in dieser Bewegung ein Bild des Zusammenhangs herzustellen. Berlin ist eine fremde Stadt, in der nicht das Sozialarbeiterkonzept der multikulturellen Erscheinung abgefilmt wird, sondern in der das Nächstliegende wie das Fernste gezeigt wird. Je näher man auf das Wort Deutschland sähe, montiert Alexander Kluge in einen seiner Filme, desto ferner sähe es auf uns zurück. Nicht nur die Mauer ist, wie Ottinger hier im Titel aufschreibt, ein Abenteuerplatz. Das entmauerte Berlin samt seinem hier erfahrenden Umland ist ein abenteuerliches Gelände, läßt man sich auf die ruhigen, beunruhigenden Blicke auf das Zonenrandgebiet der Metropole ein.