Taxi zur Kunst - Tobias Spichtig

Taxi zur Kunst

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Gefühle zu offenbaren, ist eine Herausforderung – und die Arbeiten von Tobias Spichtig laden uns ein, genau dies zu wagen. Sie wirken fragil wie Gedanken, die eine klare Form gefunden haben und doch jeden Moment wieder in ihre Einzelteile zerfallen könnten. Spichtigs Arbeiten fordern uns dazu heraus, uns selbst in ihnen zu erkennen – in unserer Zerbrechlichkeit, unserem Mut und unserer Sehnsucht.

Eine neue Ausstellung vorzubereiten, heisst für Tobias Spichtig, intensiv in seine Bildwelten einzutauchen. Zunächst baut er immer ein Modell des Ausstellungsraumes. Erste Skizzen entstehen, die er dann in sein Modell pinnt. Dieser Prozess ist konzentriert, intensiv – und immer darauf ausgerichtet, etwas Unverfälschtes, Unmittelbares zu schaffen.

Als ich mich mit Tobias Spichtig im Vorfeld zu seiner Ausstellung austausche, sind die meisten seiner Bilder noch im Entstehen. Non-finito kommt mir in den Sinn. Dieser Begriff, der das Unfertige, das Nichtausgeführte bezeichnet, hat in der Kunst eine lange Geschichte: Er ist eng verbunden mit der Bildhauerei und insbesondere den ersten Handzeichnungen des 15. Jahrhunderts. Die Künstlerinnen und Künstler gingen davon aus, dass die Betrachtenden, die in der Zeichnung lediglich angedeuteten Formen selbst erahnen und somit sehend vervollständigen würden. Eine Hommage, wenn man so will, gegenüber der Unabgeschlossenheit der sich stetig wandelnden Natur. Im 20. Jahrhundert, als sich das Non-finito mit der abstrakten und figurativen Kunst längst als eine eigene ästhetische Kategorie etabliert hat, erforschten Neurologen, wie unser Gehirn in der Lage ist, Unvollständiges zu vervollständigen. Dabei zeigte sich, dass unsere Wahrnehmung und unsere Vorstellungskraft – egal ob visuell, akustisch oder haptisch – auf das Engste miteinander verknüpft sind.

Das Unvollkommene übt eine geradezu magische Anziehungskraft aus, denn es animiert uns dazu, uns auf das Spiel der möglichen Vervollständigung einzulassen. Tobias Spichtig weiss das. Seine Bildmotive, seine Malerei und die Skulpturen öffnen einen irisierenden Resonanzraum für unsere Sehnsucht nach verborgenen Geschichten und unausgesprochenen Möglichkeiten. Spichtig nennt es «radikale Präsenz» und beschreibt damit die Kraft des Augenblicks, des Unmittelbaren und des Unabgeschlossenen.

Tobias Spichtig liebt Echoräume – aus der Kunstgeschichte ebenso wie aus der Popkultur oder der Alltagswelt. Vor allem fühlt er sich fest verankert im Jetzt, in seiner eigenen Zeit. Er beobachtet und lebt die Glücksversprechen des Konsums, goutiert den Hochglanz unserer ästhetisierten Wirklichkeit und stellt sich immer wieder die Frage: Was sind unsere wahren Sehnsüchte? Ihn interessieren Positionen wie die von Francis Bacon zum Beispiel, von Andy Warhol oder auch Carol Rama nicht als Vorbilder, sondern als Inspirationsfelder für mögliche Antworten auf diese Frage.

Die Arbeiten von Tobias Spichtig reflektieren auf ganz eigene, melancholische und fragile Weise unser heutiges Lebensgefühl zwischen Lust, Frust und der ständigen Suche nach Orientierung

Text Dorothea Strauss, Kuratorin und Transformationsexpertin, Zürich



Revealing our feelings can be challenging, yet this is precisely what we are invited to do by Tobias Spichtig’s works. They seem fragile, like thoughts that have taken on a clear form but could fall apart again at any moment. Spichtig’s creations challenge us to recognize ourselves in them – in all our fragility, courage, and longing.

For Tobias Spichtig, preparing a new exhibition means immersing himself deeply into his visual worlds. Invariably, he will begin by building a model of the future exhibition space, creating preliminary sketches which he then pins to his model. The process is focused, intense – and always aimed at creating something immediate and genuine.

When I catch up with Tobias Spichtig in the run-up to his exhibition, most of his images are still in the making. Non-finito comes to mind. This term, which designates the unfinished, the undone, has been in use in art for centuries: It is closely tied to sculpture, more particularly to the hand drawings, that first emerged in the 15th century, whose makers would often merely suggest certain forms, leaving it to the viewers to imagine what is missing and to visually complete the gaps. An homage, if you will, to the incompleteness of the ever-changing natural world. It was not until the 20th century – by which time non-finito had become well established as its own aesthetic genre in abstract and figurative art – that neurologists began studying how our brain manages to complete the incomplete. Their findings revealed that our powers of perception and imagination – whether visual, acoustic, or haptic – are indeed closely intertwined. 

Because it invites us to play this game of selecting freely among possible completions, the imperfect exerts an almost magical attraction. Tobias Spichtig knows this: His pictorial motifs, paintings, and sculptures beckon us into an iridescent resonance chamber in which all the hidden stories and unspoken possibilities we yearn for spring to life. It is what Spichtig calls “radical presence”: the power of the moment, of the immediate, and of the unfinished.

Spichtig is enamored of echo chambers, whether of art history, pop culture, or the mundane world. But he feels firmly anchored in the here and now, in his own time most of all. Though he observes and also indulges in the promised delights of consumerism and imbibes the glamorized versions of our reality with gusto, he does not shy away from the nagging question: What are our true desires? This explains his fascination with the approaches taken by the likes of Francis Bacon, Andy Warhol, or Carol Rama – not so much as role models, but rather as sources of inspiration for possible answers to this problem. 

Tobias Spichtig’s highly original oeuvre, with its sense of melancholy and fragility, holds up a critical mirror to our modern way of life, with its tug of war between covetousness and frustration and its never-ending search for orientation

Text by Dorothea Strauss, curator and transformation specialist based in Zurich






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