Die Gegenwart der Vergangenheit ist Katja Strunz’ Thema, Faltung ihre Methode, Metall und Papier sind ihr Material. Es geht in ihrem Werk darum, von A nach B zu kommen. Es geht um Distanz und Dauer, um die Beziehung zwischen Zeit und Raum – dieses so einschüchternde Kontinuum!
Der traumatisierte Körper faltet Zeit. Traumatische Erfahrungen werden nicht wie Erinnerungen verarbeitet, sie bleiben im Körper haften, werden dort konserviert. Bessel van der Kolk beschreibt in seinem Bestseller The Body Keeps the Score von 2014, wie sich das Trauma „in den Bereich des Gehirns einschreibt, welcher für das körperliche Empfinden, lebendig zu sein, verantwortlich ist“, und enthüllt so die physische Dimension, die das kontinuierliche Wiedererleben der Vergangenheit hat, welches Menschen belastet, die unter posttraumatischer Belastungsstörung leiden. In der Gegenwart nehmen die Überlebenden ihre Traumata als fragmentierte Bilder, Geräusche und Emotionen wahr, die das Gehirn nicht als der Vergangenheit zugehörig registrieren kann.
Mit in sich verwinkelten Formen und Falten gibt Strunz Risse und Einbrüche wieder. Widerständiges Metall faltet sich in feinen Konturen von neutraler Farbtönung. Seiten aus alten Büchern werden in neue Formationen zusammengesetzt. Hängende, eigentlich scharfe Winkel suggerieren bei ihr doch Weichheit. Sieht es genau so aus, wenn das Leben nicht linear, die Gegenwart kaum präsent ist?
Auch die Eisenbahn hat die Zeit gefaltet und die Distanzen wie ein Akkordeonbalg in sich zusammenfallen lassen. In einer Zeitungskolumne von 1843 wagte Heinrich Heine zu schreiben: „Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.“ Die Komprimierung des Raums steigert die Zeit. Der symbolträchtige Zug, der schlingernd durch die Städte des 19. Jahrhunderts rast, und die Flugzeuge und Raketen, die die Fantasie des 20. Jahrhunderts beflügelten, finden heute keine visuelle Entsprechung. Es ist nicht das Bild, sondern die Unsichtbarkeit von Datenfarmen oder Unterwasserkabeln, die unser Zeitalter der Beschleunigung erfasst. Strunz’ Faltungen abstrahieren diese Paradigmenwechsel. Ihre Skulpturen geben der Art und Weise Gestalt, wie der Fortschritt Perspektive zugleich zusammenzieht und entfaltet. Es geht darum, dass Zeit Geld ist, es geht um das Bedürfnis nach Geschwindigkeit. Doch gibt es auch eine Mäßigung. Eine Mäßigung wie ein großes Wegzoomen. Wie eine Rekalibrierung. Wo immer Du hingehst, Du bist da.
In Katja Strunz’ fünfter Einzelausstellung bei uns zeigt die Künstlerin erstmalig kleinformatigere Skulpturen. Neu sind an diesen Metallfaltungen ihre teilweise farbigen Fassungen. Die Skulpturen werden in einer dialogischen Installation mit neuen Papiercollagen und den seit einigen Jahren zum Kanon des Strunzschen Oeuvres gehörenden Pulp Paintings inszeniert – großformatige zweidimensionale Faltungen bzw. Collagen aus geschöpftem Papier, die auf Leinwand kaschiert wurden.
Katja Strunz (*1970) studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Institutionelle Einzelausstellungen hatte die Künstlerin u.a. im Indianapolis Museum of Contemporary Art, USA (2019), in der Berlinischen Galerie, Berlin (2013), im Saarlandmuseum Saarbrücken (2010), im Camden Art Center, London (2009) und im Haus Esters Haus Lange in Krefeld (2006). Vergangenes Jahr wurden ihre Werke zusammen mit Arbeiten von Lynn Chadwick und Hans Uhlmann im Haus am Waldsee in Berlin ausgestellt. Sie hatte darüber hinaus wichtige Ausstellungsbeteiligungen in der Sammlung Goetz in München, im Haus Konstruktiv in Zürich, dem Guangong Museum in Guangzou, China; dem Hara Museum of Contemporary Art in Tokyo; dem Migros Museum, Zürich; der Sao Paulo Biennale, Brasilien; dem Mumok in Wien, im Centre Pompidou in Paris, auf der 55th Carnegie International in Pittsburgh, USA; der Sammlung Boros, Berlin; dem Museum Abteiberg in Mönchengladbach; der Kunsthalle Basel u.v.a.m.
Die Künstlerin lebt und arbeitet in Berlin.
The presence of the past is Katja Strunz’s subject, the fold is her method, metal and paper her material. The work is about getting from A to B—what it means, why we care—and in this way, about the relationship between space and time. The daunting continuum!
The traumatized body folds time. Traumatic experiences are not processed like memories, instead they get stuck, stored in the body. In psychiatrist Bessel van der Kolk’s 2014 bestseller The Body Keeps the Score, he describes how trauma “comprises the brain area that communicates the physical, embodied feeling of being alive,” revealing the physical dimension to the continuous reliving of the past that mires people with PTSD. In the present, survivors experience their traumas as fragmented images, sounds and emotions that the brain can’t register as belonging to the past.
In angular flaps and folds, Strunz renders ruptures and intrusions. Metal fans into delicate shapes in neutral tones. Pages of old books find new form, spliced and overlapping. Suspended, sharp angles assume a softness. If life isn’t linear, the present hardly present, is this what it looks like?
The train folded time too, collapsing distances like accordion bellows. In an 1841 newspaper column, Heinrich Heine ventured, “Space is killed by the railways, and we are left with time alone.” Compressing space increases time. The train careening through 19th century towns laden with symbolism, and the planes and rockets that captured the 20th century imagination, find no visual equivalent today. It is the invisibility of data farms or undersea cables, not their image, that captures our age of acceleration. Strunz’s folds abstract these paradigm shifts. The sculptures give shape to the way progress simultaneously contracts and expands perspective. It’s about how time is money, a need for speed, but there’s also a tempering. Like a big zoom out. A recalibration. Wherever you go, there you are.
In her fifth solo exhibition with the gallery, the artist shows new small-scale sculptures, some of which she has coloured in parts for the first time. The sculptures stand in dialogue with Strunz’s signature paper collages and pulp paintings: large, two-dimensional folded collages from handmade paper laid on canvas.
Katja Strunz (*1970) lives and works in Berlin. She studied at the Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Solo institutional exhibitions include the Indianapolis Museum of Contemporary Art, USA (2019), Berlinische Galerie, Berlin (2013), Saarlandmuseum Saarbrücken, Germany (2010), Camden Art Centre, London, England (2009), Haus Esters Haus Lange, Krefeld, Germany (2006) among others. She also participated in major group exhibitions including Haus am Waldsee Berlin with Lynn Chadwick and Hans Uhlmann (2019), Goetz Collection, Munich; Haus Konstruktiv, Zurich; Guangong Museum, Guangzhou, China; Migros Museum, Zurich, CH; 13th Sao Paulo Biennale, Sao Paolo, Brazil; Hara Museum of Contemporary Art, Tokyo; Mumok Museum, Vienna; 55th Carnegie International, Pittsburgh, USA; Boros Collection, Berlin; Museum Abteiberg, Mönchengladbach, Germany; Kunsthalle Basel, CH, and many more.
Katja Strunz lives and works in Berlin.