Einst eine Funktionseinheit, über die Waggonladungen von Männern an die amerikanische Westfront transportiert wurden, betrachtet sie nun ihre abgekämpfte Erscheinung in dem großen Spiegel einer alten Saloon Bar, die sich vor ihr aufgebaut hat. Zwei Ruinen, ausrangiert, scheinen sie stumm Erinnerungen auszutauschen. Was ist das für ein raschelndes Geräusch? Der Präriewind? Im Raum bleibt es still.
Die Bar war einmal ein Ort, an dem hartgesottene Typen zusammentrafen und ihre Geschichten austauschten, Bilder anschauten und dem Geklimper des Klavierspielers lauschten. Es gab ein Gesetz, das außerhalb dieser unverzichtbaren Institution herrschte, und ein anderes, das in ihren vier Wänden galt. Gelegentlich überschnitten sich diese Gesetze und Menschen starben. Das Blut war am nächsten Abend verschwunden.
In der Eisenbahnindustrie als „common crossing“ – wörtlich übersetzt: „gewöhnliche Weiche“, im Fachjargon: Herzstück – bekannt, sind die aus Eisenmangan gegossenen Stahlgebilde an den Kreuzungen des nationalen Schienennetzes verlegt und so konstruiert, dass ein Herausrutschen des Wagenrades beim Überfahren der Schienenaussparungen verhindert wird. Zwecks längerer Haltbarkeit im Schockhärtungsverfahren gehärtet, wurden sie horizontal über den gesamten amerikanischen Boden verlegt, um die volle Wucht von Abermillionen Tonnen von Fracht über sich hinwegrollen zu lassen.
Die „gewöhnliche Weiche“ dient dazu Holperstrecken zu glätten, reibungsloses Übersetzen zu gewährleisten und die Einhaltung der Richtung zu garantieren. Die „gewöhnliche Weiche“ hilft unserer (Des)Orientierung am Idealbild, das wir von uns haben. Ohne sie würden wir ständig entgleisen, aus der Spur geraten und aus der Haut fahren. Die Bar erfüllt dieselbe Funktion, sie macht Verletzungen erträglich und mildert Ängste, indem sie die Gurgel schmiert. Wir heben einen, um in der Spur zu bleiben.
Das Schienenstück steht im Raum und betrachtet sein ergrautes Äußeres im verschossenen Tresenspiegel. Ein Artefakt der industriellen Revolution, beinahe eine Karikatur kraftstrotzender Leistungsfähigkeit, lässt es keinerlei Schwäche erkennen – mal abgesehen von seiner aus der Zeit gefallenen Nutzlosigkeit.
Können wir bereits erahnen, dass die Bar als Induktionsofen dienen und seine stählerne Härte zum Schmelzen bringen wird; es seiner eigenen vergänglichen Natur inne werden lässt, während es sich selbst buchstäblich widerspiegelt? Es wird sich verflüssigen, konturlos werden am Treffpunkt aller Gegensätze. Ein „uncommon crossing“.
Nach „Archeo“, der aufsehenerregenden Ausstellung auf der New Yorker Highline 2013-2014 und institutionellen Ausstellungen in der Tensta Konsthall in Stockholm, dem Kunstraum Innsbruck und dem Le confort Moderne in Poitiers, freut sich Contemporary Fine Arts mit “Oh, Don’t Ask Why” die erste deutsche Einzelausstellung der 1973 in East Rockaway, USA geborenen Marianne Vitale, präsentieren zu dürfen.
Vitale lebt und arbeitet in New York City.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.
In the center of the room a single stretch of decommissioned railroad track stands erect, a totem.
Once a functionary unit that conveyed carloads of men out to the Western frontier, it now regards its weary reflection in the large mirror of an old saloon bar that sits hunched before it. Twin ruins, dissipated, they silently share their memories. What is that rustling sound? The prairie wind? The room is silent.
Back then, a bar was a gathering place for hardened folk to trade their stories, to look at pictures, to hear the tinkling art of the piano player. There was one law outside this vital institution, another one within. Sometimes they overlapped, and people died. The blood was gone by the next evening.
Referred to as “common crossings” in the railroad industry, cast manganese steel structures lay at the intersections of the nation’s rail networks, designed to ensure the wheel of a train crosses the gap in the rail without dropping into that gap.
Treated with explosive shock-hardening to increase service life, they were laid down horizontally across America, bearing the brunt of millions of tons of cargo sliding over them.
The common crossing is there to smooth anticipated rough patches, to make seamless butchered transitions, to bolster the sense of a direct route. The common crossing fuels the [mis]recognition of an ego-ideal. We’d be constantly derailing, falling off the tracks, and off the deep end without it. The bar has the same use-value, smoothing over the fissures and anxieties in this case via lubrication. We go off the wagon to stay on the rails.
The stretch of track stands in the room, regarding his grizzled face in the well-worn saloon mirror. An artifact of the industrial revolution, almost a caricature of brawny capability, he admits no weakness save his own outmoded inutility. Then can we anticipate that the bar will serve as an induction furnace and smelt his steeliness, make him aware of his own transient nature, as he literally reflects upon himself? He would become liquid, indeterminate, at the meeting point of oppositions. An uncommon crossing.
Vitale lives and works in New York City.
The show will be accompanied by a catalogue.